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Die neue industrielle Revolution
Industrie 4.0
Dipl. Ing. Ralf Vinzenz Bigge, Leiter Enterprise Integration Center des FIR e. V. an der RWTH Aachen
Veröffentlicht in: DiALOG - DAS MAGAZIN FÜR ENTERPRISE INFORMATION MANAGEMENT | MÄRZ 2016
Der Begriff Industrie 4.0 ist derzeit in aller Munde. Dabei handelt es sich um ein Synonym für die „vierte industrielle Revolution“, das für die Informatisierung der steht. Der Begriff wurde durch die Hightech-Strategie der Bundesregierung geprägt und steht für eines von zehn Zukunftsprojekten, die zu mehr Wachstum und Wohlstand in Deutschland führen sollen. Damit hat die Bundesregierung eine Revolution in Aussicht gestellt, deren Vorzeichen im Bereich der Konsumgüter schon gut sichtbar werden: Dank Smartphones, Smart Gadgets und Apps lassen sich
heutzutage Prozesse enorm vereinfachen und neue Einnahmequellen erschließen. Im industriellen Kontext hingegen werden mögliche Anwendungsfälle wesentlich langsamer realisiert. Um diese Anwendungsfälle zu erschließen, ist zunächst ein eindeutiges Begriffsverständnis erforderlich: Industrielle Revolutionen beschreiben tiefgreifende und dauerhafte Umgestaltungen der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Der abstrakte Terminus Industrie 4.0 beschreibt, eingeleitet von der Mechanisierung im 19. Jahrhunderts, der darauf folgenden Einführung der
arbeitsteiligen Massenproduktion und schließlich dem Einsatz von Elektronik und IT zur weiteren Automatisierung der Produktion, die vierte industrielle Revolution.
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Führung wird immer wichtiger
Zweifellos, die meisten Unternehmen werden sich in den kommenden Jahren stark verändern. Neben ihren Strukturen und den Arbeitsbeziehungen in ihnen werden sich oft auch ihre Geschäftsmodelle wandeln. Doch eines wird sich nicht verändern: der Mensch Mitarbeiter. Er wird sich weiterhin Halt und Orientierung wünschen – gerade wenn im Unternehmen selbst und in dessen Umfeld scheinbar alles im Fluss ist.
Doch wer soll ihm dieses Gefühl vermitteln, wenn im Unternehmen sozusagen alles permanent auf dem Prüfstand steht? Letztlich können dies nur die Führungskräfte sein. Deshalb ist die These nicht gewagt: Führung wird künftig in den Unternehmen immer wichtiger werden – gerade weil es im Unternehmenskontext sonst nichts mehr gibt, worauf man als Mitarbeiter bauen und vertrauen kann.
Führung muss sich ändern
Soweit, so beruhigend. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass sich Führung nicht verändert. Im Gegenteil! Die Art zu führen, muss sich im digitalen Zeitalter radikal wandeln. Denn folgende Entwicklungslinien sind in den Unternehmen unverkennbar.
- Die für den Unternehmenserfolg relevanten Leistungen werden zunehmend von bereichs- und oft sogar unternehmensübergreifenden Teams erbracht.
- Die für die Kunden erbrachten Lösungen setzen immer mehr Spezialwissen voraus, das die Führungskräfte oft selbst nicht haben.
- Die von den Unternehmen erarbeiteten Strategien, Planungen usw. haben eine immer kürzere Gültigkeitsdauer. Und:
- Die Führungskräfte und ihre Bereiche stehen immer häufiger vor Herausforderungen, für die sie noch keine Lösung haben.
Wie ist in einem solchen Umfeld erfolgreiche Führung möglich – wenn die Führungskräfte einen immer geringeren (disziplinarischen) Zugriff auf ihre Mitarbeiter haben und – salopp formuliert – auch nicht schlauer als diese sind?
Führungskräfte müssen „Marken“ werden
Nach dem klassischen Befehl- und Gehorsam-Prinzip ist dies nicht möglich; ebenso wenig dadurch, dass die Führungskräfte versuchen, sich als Alles-besser-Wisser zu profilieren. Der einzig mögliche Lösungsweg ist: Die Führungskräfte müssen sich zu echten Leadern entwickeln, also Persönlichkeitsmarken, denen die Mitarbeiter vertrauen.
Eine Marke kennzeichnen zwei Faktoren. Erstens: Sie ist aufgrund ihres Auftritts beziehungsweise Erscheinungsbilds wiedererkennbar. Und zweitens: Sie gibt den Kunden ein klares Leistungsversprechen – so wie dies zum Beispiel die Unternehmen Audi und BMW mit ihren Slogans „Vorsprung durch Technik“ beziehungsweise „Freude am Fahren“ tun.
Erkennbar für gewisse Werte stehen
Ähnlich verhält es sich mit Fühungskräften, die eine „Persönlichkeitsmarke“ sind. Auch sie stehen für ihr Umfeld erkennbar für konkrete Werte und Überzeugungen, die sich in ihrem Verhalten zeigen. Also lautet eine Anforderung an Führungskräfte, die eine Persönlichkeitsmarke werden möchten: Sie müssen sich ihrer Werte und Überzeugungen sowie Stärken bewusst werden – also darüber, was sie als Person einzigartig und unverwechselbar macht. Dazu zählt auch das Kennen der eigenen Schwächen. Denn erst aus dem Bewusstsein unserer Stärken und Schwächen erwächst das erforderliche Selbstverständnis für unsere mögliche Wirkung. Und dieses hilft uns wiederum, nicht nur an „Schönwetter-Tagen“, sondern auch, wenn es (im Unternehmen oder Markt) „stürmt und schneit“ eine souveräne Haltung einzunehmen und zu zeigen. Und dies ist wiederum ein Signal für unsere Umwelt: Dieser Marke beziehungsweise Person kannst du vertrauen.
Sich präsentieren und vermarkten
„Werden Sie als Führungskraft eine Marke und präsentieren und vermarkten Sie sich entsprechend“ – diese Aufforderung stößt bei vielen Führungskräften auf Vorbehalte. Denn mit dem Begriff „Vermarktung“ assoziieren sie Attribute wie „schrill“ und „laut“. Doch nur wenige Marken sind so schrill und laut wie Afri Cola. Weit mehr setzen auf ein unaufgeregtes Under-Statement.
Ähnlich verhält es bei der Selbst- Vermarktung von Führungskräften. Auch hier geht es nicht darum, stets am lautesten zu schreien, sondern immer wieder nach außen zu zeigen und zu artikulieren,
- wofür man steht und
- was einem als Person wichtig ist.
Denn so entstehen Glaubwürdigkeit und somit Vertrauen. Und diese Faktoren werden für den Führungserfolg in der von Veränderung geprägten VUCA-Welt immer wichtiger.
Der Königsweg bleibt ungewiss
Experten sind sich einig, dass nicht nur Produktivitätssprünge, sondern zahlreiche neue Geschäftsmodelle und Dienstleistungen entstehen werden und prophezeien unserer Wirtschaft durch
die vierte industrielle Revolution enorme Wachstumspotenziale. Der Brückenschlag zwischen Produktion, Automation, Elektronik sowie Informations- und Kommunikationstechnologien erfordert
von Unternehmen jedoch ein hohes Maß an unterschiedlichen Kompetenzen. Sie haben kaum eine Vorstellung von der Tragweite, die diese Entwicklung mit sich bringt. Es wird in Zukunft nicht mehr ausreichen, hochwertige Produkte „Made in Germany“ herzustellen. Unternehmen, die den Transformationsprozess zur Industrie 4.0 meistern wollen, müssen sich Gedanken über die fortschreitende Automatisierung ihrer Prozesse, Datensicherheit, Qualifikationsprofile ihrer Mitarbeiter und über ergänzende, digitale Dienstleistungen machen.
Dabei gibt es allerdings keinen „Königsweg“, der eine erfolgreiche Umsetzung garantiert. Jedes Unternehmen muss für sich selber entscheiden, welche Technologien die Leistungserbringung vereinfachen. Angefangen bei Check- und Materiallisten auf dem Smartphone des Außendienstmonteurs bis hin zu vollautomatisierten Produktionsabläufen, die dank Forecasts und Echtzeitrückmeldung der Anlagen endlich real planbar werden, gibt es ein breites Spektrum an Handlungsmöglichkeiten. Auch kleine und mittelständische Unternehmen sollten nicht scheuen, Schritte in Richtung Digitalisierung zu machen, um eine revolutionäre, nachhaltige Erneuerung des Geschäftsmodells in die Wege zu leiten.
Dabei gibt es allerdings keinen „Königsweg“, der eine erfolgreiche Umsetzung garantiert.
Da es bisweilen wenige definierte Standards und klare Umsetzungsleitfäden gibt, die Investitionsentscheidungen erleichtern, hat das FIR an der RWTH Aachen ein Vier-Felder-Modell aufgestellt,
um Unternehmen einen Orientierungsrahmen für mögliche eigene Optimierungsschritte zu geben. Es unterteilt das Thema „Industrie 4.0“ in vier Handlungsbereiche: Smart Factory, Smart Operations, Smart Products und Smart Services. Dadurch gefördert, dass es heutzutage nicht mehr ausreicht, einfach nur Gewinne zu machen. Vielmehr verlangen die Kunden, dass diese vom Unternehmen
auf nachhaltige, ethische Art und Weise erworben worden sind.
Die Smart Factory umfasst eine innovative und flexible Produktion, in der modernste Sensorik und IT-Systeme zur zielgerichteten und nutzenorientierten Bereitstellung von Informationen optimal
aufeinander abgestimmt sind. Smart Operations haben hingegen das Ziel, die Wertschöpfungs- und Produktionsprozesse an der gestiegenen Kundenerwartung hinsichtlich Qualität, Effizienz,
Kosten, individueller Vielfalt, Produktions- als auch Lieferzeit auszurichten Die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit außerhalb des Unternehmens wird durch die Erweiterung des Leistungsspektrums
erzeugt. Dies beinhaltet die Entwicklung von Smart Products und Smart Services, welche die Ausrichtung an der Steigerung des Mehrwerts für den Kunden im Anschluss an den klassischen Verkauf im Fokus haben. Diese Vier-Felder-Klassifizierung ist natürlich nur eines von vielen möglichen Modellen – es soll aber Betrieben helfen, ihre Handlungsspielräume klar identifizieren und benennen zu können. So können sie auf Basis ihrer Potenziale eigene Schritte zur Industrie 4.0 nutzen.
Das FIR e.V. an der RWTH Achen ist eine gemeinnützige, branchenübergreifende Forschungseinrichtung an der RWTH Aachen auf dem Gebiet der Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung. Das Institut forscht, qualifiziert, lehrt und begleitet in den Bereichen Dienstleistungsmanagement, Informationsmanagement, Produktionsmanagement und Business-Transformation. Die Tätigkeiten des FIR zielen darauf, die IT-gestützte Betriebsorganisation systematisch zu entwickeln und exemplarisch umzusetzen. Die erarbeiteten Methoden und Werkzeuge werden in Anschluss Unternehmen wieder zur Verfügung gestellt. Im Verhältnis zwischen Praxis und Theorie betreibt das Institut anwendungsbezogene Forschung bei aktiver Mitgestaltung durch die Unternehmen.
www.fir.rwth-aachen.de